Prozessbericht des Solidaritätskomitees für die politischen Gefangenen Celle/Hannover
Verfahren vor dem OLG Celle gegen Mustafa Çelik wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§§ 129a, 129b StGB) vom 13.05.16 – 3. Prozesstag
Am 13.05.16 wurde der Prozess gegen Mustafa Çelik vor dem 4. Senat des Oberlandesgerichts (OLG) Celle fortgesetzt.
Die umfangreichen Kontrollen der Zuschauer*innen in Form von Personalienfeststellungen und Durchsuchungen wurden auch am dritten Prozesstag unverändert fortgeführt.
Knapp zehn Zuhörer*innen waren anwesend, unter ihnen auch Mutter und Vater Mustafas.
Des Weiteren waren beide Rechtsanwälte (RA), Necdal Disli und Heinz R. Schmitt, zugegen. Als Vertrauensdolmetscherin Mustafas, stand ihm Frau Akay zur Seite. Im Übrigen war das Gericht wie schon bei den beiden bisherigen Prozesstagen besetzt.
Nach der Anwesenheitsfeststellung wurde ein Beamter des Bundeskriminalamts (BKA) für die Fortsetzung der Hauptverhandlung in den Zeugenstand gerufen. In dem Ermittlungsverfahren gegen Mustafa selbst war er nicht tätig.
Der Zeuge sagte aus, dass er für das BKA im Bereich der PKK-Angelegenheiten von 2004 bis April 2012 tätig gewesen sei. In diesem Rahmen habe er den Auftrag erhalten, einen Vermerk über die HPG („Volksverteidigungskräfte“/ Guerilla-Einheiten) zu erstellen. Seitdem habe er sich nicht mehr mit der PKK befasst. Für seine Recherchen über die HPG habe er Quellen herangezogen wie etwa interne Rundschreiben, öffentlich zugängliche Internetseiten und allgemeine Presse.
In seinen Ausführungen nahm er Bezug zu seinem Vermerk, wobei er versuchte die Verknüpfung der HPG zu der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) und schließlich zur PKK zu erläutern. Dabei wurden von ihm oberflächliche Ausführungen zu bestimmten Bereichen wie der Politik, den Finanzen und vor allem der Volksverteidigung gemacht. Der Zeuge verwies auch immer wieder auf ein Organigramm, das er aus einem Fall in Sachsen bezüglich Abdullah Şen für seine Ermittlungen herangezogen habe. Das Organigramm soll zeigen, wie die HPG hierarchisch aufgebaut ist, welche Funktionen bestehen, Namen der Akteur*innen weise es jedoch nicht auf. Daraus und aus weiteren allgemeinen Behauptungen soll sich ersichtlich ergeben haben, dass die HPG ein „integraler Bestandteil“ der KCK ist, weil diese unter anderem Weisungen und Befehle durch sie ausführt. Weiter hat sich der Zeuge an eine Umschreibung des Begriffs der legitimen Selbstverteidigung versucht. Es sei eine „nach außen kommunizierte Friedenspolitik“ verknüpft mit politischen Forderungen. Es handele sich um eine Pflicht ohne Ermessen. Des Weiteren hat der Zeuge in seinem Vermerk eine Liste aufgestellt, in der Anschläge verzeichnet sind, zu denen sich die HPG ausdrücklich bekannt habe. Das alles führe zu seiner Bewertung, dass die HPG belegbar ein integraler Bestandteil der PKK sei.
Nach der Zeugenaussage folgten Fragen seitens des Gerichts.
Das Gericht wies den Zeugen auf diverse Stellen seines Vermerks hin, in denen er bei der HPG von einer „autonomen Organisation“ spreche, und fragte, was unter dem Begriff „autonom“ zu verstehen sei. Weiter fragte der Richter den Zeugen, wie der Begriff „legitime Selbstverteidigung“ zu verstehen sei und ob dieser mit der Notwehr im deutschen Strafrecht gleich zu setzen sei. Danach ging das Gericht genauer auf die vermeintlichen Anschlagsdaten und auf die Zahl der dabei Getöteten ein und fragte nach den Gründen für einige Unstimmigkeiten in der diesbezüglichen Auflistung. Schließlich wurde der Zeuge nach den Personen gefragt, die sich hinter den Internetseiten verbergen könnten, die er als Grundlage seiner Recherchen bezüglich der Anschläge verwendete.
Obwohl die o.g. Begriffe alle dem Vermerk des Zeugen entstammen, wusste dieser nicht um dessen genaue Bedeutung. Im Übrigen entgegnete er, dass er unter dem Begriff „legitime Selbstverteidigung“ verstanden habe, dass es sich um Fälle handele, bei denen auf Angriffe seitens der türkischen Regierung reagiert werde und die HPG nie erster Angreifer sei. Auch sei die legitime Selbstverteidigung nicht mit der deutschen Notwehr gleichzusetzen, sondern es handele sich um eine Art Generalklausel. Insgesamt habe es von 1993 bis 2012 sechs Waffenstillstände auf Seiten der PKK gegeben. Hinter den Medien, die er als Grundlage seiner Recherchen verwendete, vermute er Betreiber in Belgien, da der Domaininhaber in Belgien registriert sei – sicher sei er sich dessen aber nicht. Auf Nachfrage des Gerichts, ob er dahinter eine Organisation vermute, antwortete er mit Nichtwissen.
Es folgten Fragen seitens der Staatsanwaltschaft (StA).
Diese wollte wissen, ob es sich bei den von dem Zeugen verwendeten Quellen um PKK-nahe Seiten handele. Auch wurde der Zeuge nach den möglichen Hintergründen der von ihm angeführten Anschläge gefragt und wo diese Anschlagsorte überwiegend lägen. Schließlich fragte die StA den Zeugen, ob bei diesen genannten Anschlägen das Leben von Zivilisten und finanzielle Schäden bei den Sabotageakten bewusst in Kauf genommen würden.
Der Zeuge entgegnete, dass die von ihm herangezogenen Seiten überwiegend pro-kurdisch, aber nicht PKK-nah waren. Die meisten Angriffe hätten in der Süd-Ost-Türkei stattgefunden. Die Hintergründe dieser seien Vergeltung und Rache für in der Vergangenheit gefallene Opfer auf kurdischer Seite. Den herangezogenen Quellen habe er nicht entnehmen können, ob Zivilisten bei den verübten Anschlägen zu Tode gekommen sind.
Hiernach hatte die Verteidigung die Möglichkeit dem Zeugen Fragen zu stellen.
RA Schmitt fragte, wie genau die Ermittlungsdaten des Zeugen zustande kommen würden. Er könne sich nämlich nicht vorstellen, dass sich unter den Getöteten nur Soldaten und nicht auch Opfer kurdischerseits befänden. Eine weitere Frage des Verteidigers an den Zeugen war: „Kennen sie zweiseitig erklärte Waffenstillstände?“, welche der Zeuge verneinte. Der Verteidiger erwiderte demgegenüber, dass man die bei Böswilligkeit davon ausgehen könne, dass der Vermerk des Zeugen bewusst nur von einseitig beendeten Waffenstillständen spreche, ohne zu berücksichtigen, dass diese von vernherein auch nur einseitig erklärt wurden.
Der Zeuge antwortete, dass er nicht genau sagen könne, ob unter den Getöteten auch Opfer kurdischerseits waren. Die Berichte auf den von ihm verwendeten Internetseiten seien recht nüchtern und ohne genaue Angaben gehalten. Zudem sei sein Auftrag auf die HPG beschränkt gewesen und nicht auch auf türkische Quellen bezogen. Auf die vom Verteidiger in Betracht gezogene Möglichkeit von einer ungenauen Auflistung der Anschläge und Anzahl der Getöteten reagierte der Zeuge einsichtig und schloss diese Möglichkeit nicht aus.
Zum Ende des Verhandlungstags führte das Gericht eine sogenannte Allgemeinkundigkeitserklärung ein, die sie allen Parteien aushändigte und erklärte, dass die darin enthaltenen Tatsachen der Entscheidung zugrunde gelegt würden. Abwechselnd lasen zwei der Richter die oben genannte Erklärung vor. Inhalt dieser ist eine Darstellung des türkisch-kurdischen Konflikts, die Rolle der PKK und ihrer Abzweigungen darin mittels eines historischen Grundrisses. Neben diesen Tatsachen sollen bei der Entscheidung des Senats auch Urteile aus ähnlich gelagerten Verfahren der hiesigen Entscheidung zugrunde gelegt werden. Diese sind folgende Urteile: OLG Hamburg 2015; OLG Stuttgart 2014; OLG Stuttgart 2013 und OLG Celle 2006.
Die Reaktion der Verteidigung hierauf war die Ankündigung einer schriftlichen Gegendarstellung.
Des Weiteren wies RA Schmitt auf die unwürdige Behandlung Mustafas in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Sehnde hin. Seit seiner Untersuchungshaft in der JVA (mittlerweile sechs Monate) wurde die Zelle Mustafas ohne berechtigten Anlass über 80 Mal kontrolliert. Die Durchsuchungen dauerten in der Regel mehr als eine Stunde, was absolut unangemessen und unzumutbar sei. Das Gericht erwiderte hierauf, dass es mangels Kenntnis der gerügten Umstände nichts hierzu sagen könne. RA Schmitt kündigte diesbezüglich eine schriftliche Rüge an.
Die Vernehmung des relevanten Zeugen, welcher ebenfalls ein Beamter des BKAs ist, wurde für die nächste Hauptverhandlungstermin am 17.05.2016 um 9.15 Uhr angekündigt. Damit endete bereits der dritte Prozesstag.
Zusammenfassend kann zum 3. Prozesstag folgendes festgehalten werden:
Die Aussagen des Zeugen waren größtenteils sehr allgemein gehalten. Die Aufnahme bestimmter Begrifflichkeiten in seinem Vermerk erfolgten ohne Nachrecherchen und ohne Wissen um die genaue Bedeutung. Viele konkrete Nachfragen blieben mangels Erinnerungsvermögen des Zeugen unbeantwortet. Ferner wies die Auflistung bzgl. vermeintlicher Anschläge der HPG in einer Gegenüberstellung der Quellenangaben deutliche Widersprüche auf. Nicht selten entgegnete der Zeuge den gestellten Nachfragen damit, dass seine Tätigkeit lediglich auf die HPG beschränkt gewesen sei und er sich auf übersetzte Schriften des KCK-Abkommens verlassen habe, ohne das zu hinterfragen.
Des Weiteren liegt der Zeitraum, auf den sich der Zeuge bezieht (2004-2012) und seine Arbeit erstreckt, vor dem Zeitraum in dem Mustafa laut Anklage für die PKK tätig gewesen sein soll. Verständlicherweise stellt sich die Frage, warum ein Zeuge hinzugezogen wird, der in keinem zeitlichen Zusammenhang zu dem laufenden Verfahren steht. Laut Anklage soll Mustafa nämlich von Juni 2013 bis Juli 2015 tätig gewesen sein. Der Zeuge räumte selbst an verschiedenen Stellen seiner Aussage bzw. auf Nachfragen ein, dass sein Vermerk keine umfassende Darstellung sei, in der Auflistung Unvollständigkeiten aufweise und einseitig auf die HPG beschränkt wäre.
Weitere anberaumte Prozesstermine:
Jeweils um 9.15 Uhr im OLG Celle/Saal 94 (Schlossplatz 2, Eingang Kanzleistr.):
im Mai: 17.05.16, 20.05.16, 24.05.16, 27.05.16,
im Juni: 03.06.16, 07.06.16, 10.06.16, 14.06.16, 17.06.16, 21.06.16, 24.06.16, 28.06.16,
im Juli: 01.07.16, 05.07.16.
Für eine Anreise vom Hannover Hbf bietet sich die S-Bahn um 8.04 Uhr an.
Pressekontakt des Solidaritätskomitees:
NAV-DEM Hannover
nav-dem_hannover [at] posteo.de
015213381093
Den Bericht vom 3. Prozesstag gg. Mustafa Çelik (13.05.16, OLG Celle) als pdf: hier.