Anwesend: Strafsenat (R1, R2, R3), StA, Verteidigung (V1, V2), Hıdır Yildirim (HY), Dolmetscher, Protokollantin, Prozessbeobachter*innen, Presse, Justizbeamt*innen, Zeuge Peter Rampe (PR)
Der Zeuge: Peter Rampe, 72 Jahre, ausgebildeter Ethnologe
R1 beginnt nach einer Belehrung die Zeugenvernahme und fragt PR, ob er etwas über die Situation von Alewit*innen in der Türkei erzählen könne.
PR antwortet, dass er dafür erstmal sagen müsse, was der Erfahrungshintergrund von diesem Wissen sei. Er habe in den 70er Jahren im Bereich der Arbeitsmigration geforscht und bei einer Exkursion nach Anatolien zufällig in Dersim gelandet. Es war die erste Region in der er sich aufgehalten habe, wo nicht mehrheitlich Sunnit*innen lebten. Bevor er dort hinging sei er in anderen Regionen auf Unverständnis gestoßen, denn es sei die Region der „drei K‘s“, der Kısılbaş (Fremdbezeichnung für Alewit*innen), der Kommunist*innen und der Kurd*innen. Diese 3 Identitäten haben ihn auch wissenschaftlich interessiert. Ein wesentliches Ergebnis sei gewesen, dass das Alewitentum bis in die Gegenwart hineinwirkt. Es habe eine ganze Reihe von vorislamischen Glaubensinhalten beibehalten. Es gebe eine Verortung des religiösen Handelns in dem Menschen hinein. Jeder sei für sich selbst verantwortlich und somit wäre das Alewitentum sehr Diesseits orientiert. Eine Bezeichnung für das Alewitentum von Alewit*innen selbst sei „diejenigen, die ihrer Mund, Hände und Lemden Herr sind“. Kennzeichnend sei auch, dass bei religiösen Versammlungen beide Geschlechter anwesend seien. Dies habe die Haltung, dass Alewit*innen Ketzer seien, noch verstärkt. Es habe Versuche gegeben, die Identität der Alewit*innen aufzubrechen. Attatürk wollte einen möglichst ethnisch und religiös einheitlichen Staat, somit habe es eine Leugnung von Kurd*innen und Alewit*innen gegeben und die Menschen sollten als türkisch und sunnitisch vereinheitlicht werden.
Unter kurdischen Stammesgruppen, als sie noch nicht unter staatlicher Kontrolle gestanden haben, habe es Sehids gegeben. Diese waren Leute, die zwischen den Stammesgruppen gestanden haben, religiös gebildet gewesen seien, Lieder und religiöse Vorschriften gekannt haben.
Kısılbaş bedeute Rotkopf und sei einer türkische Fremdbezeichnung für Alewit*innen. Die Diskriminierung bestehe bis heute und habe sich erneuert. In den 70ern habe man über die Diskriminierung nur unter vorgehaltener Hand sprechen können. 1937 ist es ein grauenhaftes Massaker gewesen, danach sei ein Großteil der bevölkerung umgesiedelt worden. Alte Leute hätten damals erzählt, wie sie das erlebt haben, aber unter vorgehaltener Hand. Inzwischen gäbe es darüber Dokumentationen und Filme.
Im „Linkssein“ würden religiöse Werte der Alewit*innen dargestellt. PR habe auch beobachtet, wie lebhaft die politischen Diskurse gewesen seien. Bei dem Putsch, welcher ein bürgerkriegsähnlicher Zustand war, habe es auch Zusammenstöße mit faschistischen Gruppen, wie den grauen Wölfen gegeben.
Dersim war auch ein armenisches Gebiet. 1916 seien armenische Leute, die sich vor dem Genozid retten konnten in die kurdische Gesellschaft integriert worden. Man wollte nicht das selbe Schicksal erleiden, wie die Armenier*innen. Durch den gesellschaftlichen Status hätten alewitische Kurd*innen sich Armenier*innen näher gefühlt als sunnitischen Osmanen.
PR geht nochmal auf die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ein. Die Sehids seien sehr politisiert gewesen. Bei der Osmanisierung wurden Kinder gezwungen türkisch zu lernen. Die kulturelle Unterdrückung dauere immer noch an.
Seit 1979 sei PR nicht mehr dort gewesen und habe das Geschehen und die Situation seitdem aus der Zeitung verfolgt.
2010 habe PR nochmal versucht Jungs aus dem Dorf aufzusuchen und habe mit welchen in Hebronn, Wuppertal und in der Türkei gesprochen. Aus deren Erzählungen habe PR weitere Entwicklungen rekonstruieren können. Nach dem Putsch von 1980 seien viele in Diabakyr im Gefängnis gelandet. Die Verbrennung Mazlum Dogans in der Gefängniszelle sei ein Symbol dafür, dass der Widerstand unter kurdischem Vorzeichen erst durch die brutale Situation in den Gefängnissen so groß geworden ist. Nach dem Erstarken der kurdischen Bewegung und der PKK sei in den 90er Jahren die Versorgung der ganzen Bevölkerung in bestimmten Regionen unterbunden worden, um die Versorgung der Guerila zu verhindern. PR habe bei seinen Unterhaltungen von einem Mann gehört, dem vom türkischen Militär beide Hände gebrochen und sein angebautes Gemüse zerstört worden sei. Man habe auch keinen Zucker oder Mehl zurück in das Dorf nehmen können. Es habe großangelegte Vertreibungsaktionen und Demütigungen gegeben. PR erzählt von einer weiterem Vorfall. Als das Militär abziehen wollte, habe eine Großmutter ihnen ein Päckchen vorbereitet, um es auf den Weg mitzugeben. Sie habe es ihnen übergeben und dabei etwas auf kurdisch gesagt. Daraufhin sei sie von den Militärs verprügelt worden, welche meinten, sie spreche so eine hässliche Sprache. Ihre Tochter sei dazwischen gegangen und dann sei auch sie von den Militärs verprügelt worden.
PR sagt, es gebe keine*n in Dersim, der nicht eine*n Familienangehörige*n habe, der Leidtragende durch den türkischen Staat sei, welcher einen ethnisch homogenen Staat wollte.
Die meisten Bewohner*innen seien nach Westanatolien oder Deutschland gegangen. In der Türkei haben sie eine große Diskriminierung erlebt. Z.B. seien ausgebildete Lehrer nie in den Staatsdienst gekommen wegen ihrer Herkunft und Religionszugehörigkeit. Die Diskriminierung werde von großen Teilen der anatolischen Regierung mitgetragen.
Als PR anfängt vom Massaker zu berichten, unterbricht R1 und sagt, dass keine Einzelheiten des Massakers erzählt werden sollten, da dies bereits aufgenommen wurde.
Der Zeuge fährt fort und geht darauf ein, was mögliche Motivationshintergründe des Angeklagten sein könnten.
HR sagt, dass ein großer Unterschied heute zur Situation in den 70er Jahren sei, dass ein gewachsenes kurdisches Selbstbewusstsein bestehe. Das merke man z.B. an der Sprache, die nun offener gesprochen werde und somit ein differenzierterer Wortschaft vorhanden sei. HR sagt, dass es eine weit verbreitete Auffassung sei, dass wenn man ein würdiges Leben führen wolle, man sich gegen Despoten zur Wehr setzen müsse. HR sagt, es sei eine sehr wehrhafte Kultur und wer sich nicht wehrt, würde als Schwächling gelten. Dies sei so etwas wie eine kulturelle Vorschrift.
In Dersim sei man zerrieben worden, zwischen Staat und bevölkerung. Zum Beispiel sei ein Mann, der Waisen abgeholt hat, des Spitzeltums verdächtigt worden. Dies habe eine große Ambivalenz der PKK an den Tag gelegt.
Die Bevölkerung werde durchaus wirksam geschützt durch die Guerila. Manche in der Gegend wären Sympathisanten, andere hätten versucht sich von der PKK fernzuhalten. Aber über die politische Wirksamkeit der Guerila habe sich niemand Illusionen gemacht. Es wäre allen klar, dass die Situation ohne den bewaffneten Widerstand noch schlimmer wäre.
R1 fragt nach dem Namen des Dorfes, in dem PR geforscht habe. PR antwortet, der Name sei Mankerek. Der Bezug zum Dorf sei auch bei den Menschen, die dort nicht mehr leben würden sehr groß, da die facebookgruppe „Mankerek“ größer sei als die Einwohnerzahl.
R1 fragt nach den Geziprotesten 2013 und ob PR Erkenntnisse habe, ob dort Alewit*innen beteiligt gewesen seien. PR sagt, er wisse da nicht mehr als jede*r Zeitungsleser*in. Die Proteste seien sehr sekulär geprägt gewesen. Auch die Alewiten würden eine sekuläre Gesellschaft wollen. Von den Menschen, die in dem Dorf bei Dersim gelebt haben, habe PR auch kritische Stimmen gehört, die sich fragten, wo die vielen Menschen von den Geziprotesten waren, als die ganzen Dorfzerstörungen gewesen seien. Es habe durchaus Kontraste bei den Protesten und im bewaffneten Widerstand gegeben.
Der Generalstaatsanwalt hat keine Fragen.
V2 fragt, ob PR etwas zu folgenden Worten von HY sagen könne. Der türkische Staat meine, der beste Kurde sei ein toter Kurde. PR sagt, wegen der Gefahr, die von den Toten ausginge (Entfachen von Widerstand), würden diese teilweise nicht ihren Familien überbracht werden.
V2 fragt, ob es PR‘s Beobachtungen entspreche, dass der türkische Staat zur Assimilierung zwinge. PR antwortet, dass es ihm durchaus plausibel erscheine, dass der Angeklagte die Situation so einschätze. Ob es nun wirklich so sei, wäre aber ein politisches Urteil.
V2 fragt, ob es bewaffnete Gruppen von 1978 gegeben habe. PR antwortet, es habe kleinere bewaffnete Gruppen gegeben. Die Politisierung habe in dem Jahrzehnt in heißen Diskussionen unter jungen Leuten stattgefunden. Im Zuge des allgemeinen Bürgerkriegsklimas habe die Revolutionsrhetorik für die Politisierung der Leute eine große Rolle gespielt.
V2 fragt, wie viele Leute seid den 70er Jahren nach Deutschland ausgewandert seien. PR sagt, er kenne da keine Statistik. Es habe Armutsmigration gegeben. Zudem habe es in den 90er Jahren größere Vertreibungen und Landzerstörungen gegeben. Die kargen Böden seien nun nicht mehr anbaubar. Auch mit Wildschweinen gebe es Probleme und die Böden seien mit Schlangen besetzt worden. Die Wildschweine würden durch die Bombardierung in den Osten von Dersim gekommen sein. Durch die Vertreibung sei der Zusammenhalt des Dorfes und das soziale Netzwerk auseinandergebrochen.
V2 fragt, ob PR dazu Erkenntnisse habe, dass Obstbäume, die agraisch wichtig waren, durch den Staat zerstört worden seien.
PR sagt, er habe dazu keine Erkenntnisse.
V2 fragt, was genau die Rolle der Seids, der sogenannten „Volkserzieher“ gewesen sei, da der Angeklagte auch aus einer Seid-Familie stamme.
PR sagt, sie hätten Verantwortung für religiöse und kulturelle Versammlungen und auch für politische Diskussionen, welches z.B. Bauernaufstände bewirkt habe. Bis zur heutigen Zeit sehe man diesen politischen Widerstand
V2 fragt, ob PR Erkenntnisse dazu habe, ob nach den 70er Jahren von Kolonialisierung des türkischen Staates gesprochen worden sei.
PR sagt, die Kolonialismus-These sei schon vertreten worden. Leute damals hätten aber eher geklagt, dass sie vom Staat vernachlässigt werden würden, z.B. keine Schulen, Straßen, Eliktrizität gebaut worden sei
V1 stellt Antrag nach §22, Abs. 3
Der Generalstaatsanwalt äußert sich zur Zeugenvernahme. Für die Frage eine Verurteilung würde es keine Rolle spielen. Die Zwangslage sei allerdings sehr gut herausgekommen und habe gut korrespondiert mit der Erklörung von HY. Es würde zwar nichts an der Tatfrage ändern, aber es wären durchaus Aspekte, die beim Urteilsspruch eine Rolle spielen würden.
Der Zeuge wird verabschiedet.
Es werden sich Fotos angeschaut, welche HY bei einer Reise in den 90er Jahren in seinem Heimatort gemacht habe.
→ Foto von einem Ort, an dem Leute der Guerila von den Bergen in den Abgrund gestoßen wurden
→ Fluss zwischen den Dörfern, wo eine Brücke zerstört wurde und somit die Verbindung zwischen den Dörfern gekappt wurde
→ Quellen von Monsul, welches eine heilige alewitische Stätte ist
→ Das Dorf wo er aufgewachsen ist mit Häusern, die nach 2013 gebaut wurden. Dort sind auch vertrocknete/zerstörte Walnussbäume. Das Dorf wurde in den 90ern in Brand gesteckt und viele wurden vertrieben. Tagtäglich waren Militärhubschrauber zu hören. Es gab in der Nähe eine Militärstation, an deren Grenze auch geschossen wurde.
Ein Video von seiner Reise wird gezeigt. V1 sagt zum Dolmetscher, dass dieser auch die Stimmen in dem Video übersetzen könne. R1 wirft ein, dass dieses nicht gehe, da er sonst eine Doppelrolle (Übersetzung für HY und für das Gericht) habe.
Eine Dokumentation wird gezeigt, bei der gezeigt wird, wie der türkische Geheimdienst IS-Kämpfer abholte und über die Grenze nach Kobane durchließ und Oppositionellen den Zugang verwehrte. Zudem wird gezeigt, wie ein Journalist in der Türkei angeklagt wird, weil er die Waffenlieferungen zwischen türkischem Staat und dem IS offenlegte. Die Unterstützung des IS seitens des türkischen Staates erfolge auch, indem viele IS-Kämpfer nicht verurteilt und nicht angeklagt werden. Die türkische Staatsführung sei an den IS-Pässen nicht ganz unschuldig.
Ein Interview wird gezeigt. In dem Interview wird gefragt, was es für Beweise für Waffenlieferungen vom türkischen Staat an den IS gebe. Die Antwort ist, dass die Regierung die Recherchen nicht verneint hat, sondern der Journalist verurteilt wird, ein Staatsgeheimnis veröffentlicht zu haben. Es wird gefragt, wieso die türkische Regierung den IS unterstütze. Dies würde der Antwort im interview nach wegen der islamischen Verbundenheit geschehen, aber vor allem weil der IS eine Kraft gegen die Kurd*innen in der Region sei.
R1 geht ein auf den Antrag bezüglich der Fremdsprachenkenntnis von H. Effelsberg, welcher die TKÜ-Maßnahmen durchgeführt habe. Es wird ein Schreiben von ihm vorgelesen. Es wird vermerkt, dass Effelsberg bei der Durchführung von TKÜ-Maßnahmen keine Sprachkenntnisse in türkisch oder kurdisch habe, um übersetzen zu können.
Ergebnisse der TKÜ→ Erläuterung der Abkürzungen, bzgl. der Übersetzungen