Mit Beginn des dritten Prozesstages reichte die Verteidigung einen 49-seitigen Antrag auf Einstellung des Strafverfahrens, Rücknahme der Verfolgung, sowie Aufhebung des Haftbefehls gegen Auflagen ein.
Im folgenden eine kurze Übersicht und Zusammenfassung des Antrags:
Die Verteidigung begann mit einer Einordnung des türkischen Staates, der PKK, sowie des §129 b, bezüglich der deutschen Justiz wurde noch einmal betont, dass die Türkei kein Mitgliedsstaat der EU sei und sich dies auch im Rahmen der Justizhandlungen klar sein muss.
Es folgte eine Bewertung des §129 b, der laut Verteidigung grundsätzlich verfassungswidrig sei, da die Entscheidung auf Schuldigkeit politisch vorbestimmt ist und die Justiz nur noch als ausführendes Werkzeug politischer Interessen diene. Dies zeige sich insbesondere auch in der unverhältnismäßigen Verfolgung und Repression gegenüber der PKK und kurdischer Organisationen im Gegensatz zu islamistischen Gruppen. Die Verteidigung warf ein nicht zu wissen, ob es womöglich dabei doch eher um geopolitische Interessen handele.
Eine Differenzierung bezüglich Befreiungsbewegungen sei notwendig, da Widerstand gegen systematische Unterdrückung und totalitäre Regime auch nach unserem Moralverständnis legitim sei. Gerade im Falle des türkischen Staates müsse hier eine Neubewertung stattfinden, so führte die Verteidigung auf die Türkei betrachtet aus:
In der Türkei werden die Menschenrechte systematisch unterdrückt und angegriffen, kulturelle, religiöse und sexuelle Minderheit werden verfolgt, demokratische Rechte nicht oder nur eingeschränkt gewährt. Extra-legale Hinrichtungen, Morde, Verschwindenlassen und Folter finden auch jetzt noch weiterhin gegen jeglichen internationalen oder Menschenrechte statt und werden de facto nicht strafrechtlich verfolgt. Die Opfer dieser Realität sind vor allem Kurd*innen und linke Oppositionelle, die beweisen die Jahresberichte des Menschenrechtsvereins IHD.
In den Jahresberichten des IHDs wurden unter anderem Morde durch die Geheimdienstpolizei JITEM aufgedeckt, so wurden bereits an die 100 Massengräber mit über 2000 Leichnamen entdeckt. Zehntausende Menschen legten Klagen und Beschwerden wegen staatlicher Folter ein, weitaus mehr sind Opfer eben jener gewesen oder immer noch. Selbst das türkische Justizministerium gab auf Anfrage bekannt, dass für 2006 und 2007 fast 5000 Klagen und Beschwerden wegen Folter eingegangen sein.
Bereits vor dem Putsch gab es laut türkischer-staatlicher Angaben bereits 18000 politische Gefangene, die zumeist wegen Verteilens von Flugblättern, öffentlicher Kritik oder Nutzung der kurdischen Sprache verurteilt wurden.
Der Amnesty International Bericht 2014 sieht eine massive Einschränkung des Demonstrations- & Versammlungsrechts innerhalb der Türkei. Immer wieder tauchen Menschenrechtsverstöße durch Polizei und andere staatliche Kräfte auf. Gleichzeitig findet eine enorme Missachtung und Zensur der Medien- und Meinungsfreiheit statt, so wurden immer wieder Plattformen wie YouTube, FaceBook, Twitter, etc. von der türkischen Regierung gesperrt. Aktuell werden ganzen Medien verboten oder staatlicher übernommen.
In Anbetracht dieser Lage ist der türkische Staat kein geeignetes Schutzgut des deutschen Strafrechts.
Darüber hinaus wurde mehrfach bekannt und bewiesen, dass der türkische Staat mit islamistischen Terrororganisationen wie dem IS oder dem regionalen al-Qaida Ableger zusammenarbeitet. Die spektakulärste Aufdeckung waren dabei Waffenlieferungen an genannte Gruppen durch den türkischen Geheimdienst MIT und den Schutz dieser Lieferungen von obersten Stellen der Regierung.
Dem gegenüber gab es international Anerkennung für die Leistungen der PKK, wie beim Schutz der Êzîd*innen im Shengalgebirge oder ihrer Unterstützung bei den Kämpfen gegen den IS in Nordsyrien und den kurdischen Gebieten im Irak.
Der türkische Staat greift seit spätestens 2014 kontinuierlich kurdische Siedlungsgebiete im Norden Syriens an. Gleichzeitig ziehen Todeskommandos durch Europa und ermorden kurdische Politiker*innen und Aktivist*innen, wie in Paris. Bereits 2012 kontaktierte der belgische Geheimdienst kurdische Exekutivstellen in Europa, dass es dem Geheimdienst gelungen sei ein Attentat auf kurdische Persönlichkeiten in Europa zu verhindern.
Nicht zu Letzt sind die Keller von Cizre zu nennen, in denen hunderte Menschen während der heftigen Angriffe der türkischen Armee mit Panzern und Artillerie Schutz suchten und in denen hunderte bei lebendigem Leib verbrannten. Bis heute konnte keine unabhängige Untersuchung dieser Ereignisse statt finden, da die türkische Regierung der UN und NGOs jeglichen Zugang verwehrt.
In der Türkei wurden mittlerweile die Immunität von 138 Abgeordneten aufgehoben, dies hat zum Ziel die Opposition zu schwächen und die Macht der AKP unter Erdogan zu stärken um zeitnah den Weg für ein Präsidialsystem frei zu machen.
Die Unterstützung des türkischen Staates würde für die Bundesrepublik die Aufhebung der eigenen Normen und Maßstäbe bedeuten und somit Unterstützung von Folter und Unterdrückung. Die aktuelle Situation in der Türkei mit der Erklärung eines Ausnahmezustandes kommt einer Diktatur gleich, die faktisch die Aufhebung der Gewaltenteilung bedeutet, dies muss als ziviler Putsch und Staatsterror bezeichnet werden.
Der gescheiterte Putsch ist bewusst zur Säuberung des Staatsapparates genutzt worden. Bis zum 28.09.2016 wurden seit dem Putsch über 40.000 Menschen verhaftet, dutzende Medien wurden geschlossen, nationalistische Mobs ziehen durch die Straßen und zerstören Läden von Opposition und Minderheiten. Es besteht ein Ausreiseverbot für Akademiker*innen und de facto etabliert sich ein Spitzelstaat, bei dem jede kritische Äußerung durch jede*n angezeigt werden kann und soll.
Damit schloss die Verteidigung ihre Bewertung und Argumentation zu dem Antrag, sie forderte abschließend die Entlassung aus der Untersuchungshaft, da keine begründbare Fluchtgefahr besteht. Im Verhältnis zu dem bereits verurteilten Mehmet Demir sollte eine geringe Strafe angedacht werden, die dann auf Bewährung auszusetzen sei.
Darüber hinaus sollte die Strafverfolgung insgesamt fallen gelassen werden, da auf Grundlage der gleichen Klage bereits ein Freispruch in Dänemark erfolgte und somit ein Strafklageverbrauch vorliegt.
Eine Entscheidung zu diesem Antrag soll noch innerhalb dieser Woche erfolgen.
Nach diesem Antrag ging die Begutachtung der Telekommunikationsüberwachung weiter. Es wurden verschiedene Telefongespräche aus dem Winter 2014/2015 vorgespielt und übersetzt. In den Telefonaten ging es meist um Verabredungen, Smalltalk über Familie, Gesundheitszustände und anstehende Besuche, sowie Probleme und Sorgen einiger älterer Menschen.
Typisch terroristisch halt…